Egbert Hörmann (member of our Berlinale Shorts selection committee) has written a text (in German) about Rainer Werner Fassbinder for the TEDDY AWARDS.

„Aber er läuft ja wie ein Rasiermesser durch die Welt, man schneidet sich an ihm!“
„Ich werfe kein Bomben, ich mache Filme.“
Als Rainer Werner Fassbinder, der wohl bedeutendste deutsche Nachkriegsregisseur, 1982 im Alter von nur 37 Jahren an einer „Überdosis Arbeit“ (Fassbinder-Intimus Harry Baer) kometenhaft verglühte, hinterließ er – 41 Filme in nur 13 Jahren! – in der europäischen Filmlandschaft ein bis heute nicht gefülltes Vakuum und ein einzigartiges, vielschichtiges, verstörend-betörendes und wundervoll unergründliches Werk von – bei genauerer Betrachtung allerdings – dennoch verblüffender Geradlinigkeit, Konsequenz und Schlüssigkeit.
Die skandalöse Gestalt selbst wirft einen langen Schatten auf die Filme und das vielfältige Schaffen als Theater- und Filmregisseur, Schauspieler, Produzent, Dramatiker und Publizist. Fassbinder wird auch heute noch mit wohligem Schaudern gern beschworen als monströses, molochartiges Genie – mythisch, manisch, grenzensprengend, brutal, masochistisch, vulgär und nichts und niemanden schonend (sich selbst schon gar nicht!). Aber man erkennt in ihm auch eine zarte Seele, einen zutiefst scheuen Menschen, einen großen Liebenden mit einem tiefen und unmittelbaren Gefühl für die von ihm dargestellten Menschen, dessen wissender Weltschmerz schon früh in Hyperaktivität umgeschlagen war.
Es ist heute kaum mehr vorstellbar, wie faszinierend neu und verstörend dieser Agent Provocateur in die behäbige deutsche Filmlandschaft einbrach (1969 kam es im Wettbewerb der Berlinale mit dem mit unglaublicher Aggression aufgenommenen ersten Spielfilm „Liebe ist kälter als der Tod“ zum Skandal). Zwar verleugnete sein Werk nie die Herkunft aus der subkulturellen Avantgarde, aber Fassbinders Ziel war es von Anfang an, in breit gefächerte kulturelle und gesellschaftspolitische Diskussionen einzubrechen, einzugreifen, und gleichzeitig sowohl dezidiert politisch und kritisch als auch zugleich so populär wie das von ihm über alles geliebte Hollywoodkino zu sein, etwa dem von Douglas Sirk mit seinem distanzierten Anti-Naturalismus (hier existiert ein Baum nur deshalb, um die Initialien herzeigen zu können, die romantischerweise vor 15 Jahren in sein Holz geschnitzt wurden und die den Fluss der Zeit unbeschadet überstanden) und dessen Mega-Meta-Kitsch sogar bei den Happy Ends von einer pessimistischen, klassischen Größe ist.
Die Elemente, die seine Kinofilme so spezifisch machen (seine Arbeit für das Fernsehen muss etwas anders betrachtet werden), sind das Genrekino (der Film Noir, der Gangsterfilm und natürlich das Melodram mit seinen inneren Widersprüchen, dessen Herz die Erfahrung des Verlustes ist, der Ereignisse, die nicht stattfinden und vor allem des Wortes, das nicht gesagt wird), ein eigenwilliger Marxismus, Freuds Un- und Vor- und Unterbewusstes, die westdeutsche populäre Kultur, der Fluch des deutschen Faschismus, die Verfremdungsästhetik von Brecht und zugleich eine gute Dosis Warhol und Camp-Sensibilität. Wie Werner Schroeter scheute er nie das Pathos, nach Nabokov eines der Grundelemente großer Kunst. Er vereinte all das in einem Stil, der roh, überdreht, monumental, unterkühlt und von äußerster, kompromissloser Künstlichkeit war, wobei bei der „Demaskierung des Bewusstseins“ à la Ödön von Horváth niemals die sozialpolitische Bodenhaftung verloren ging.
Fassbinder war mit der ihm eigenen Comédie Humaine ein Autor vom Zuschnitt Balzacs, und er hatte von Anfang an eine Vision, die dann zu seiner Mission wurde: Er wollte der Chronist der inneren Geschichte Westdeutschlands werden. Seine politische Realität war eine noch tief im Nazi-Sumpf verstricke Gesellschaft im Aufbau-, Verdrängungs- und Kalter-Krieg-Wahn, die die Chance zu durchgreifender Erneuerung nach 1945 nicht wahrgenommen hatte und bis zum Ende der 1960er Jahre eine streng patriarchalisch-konservative Vasallendemokratie war.
„Meine Filme handeln von Abhängigkeiten.“ Sein letztes, monumentales Meister- beziehungsweise Monsterwerk ist „Berlin Alexanderplatz“ (1980), ein Film wahrhaft aus der Menschenfinsternis und wohl wie “Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus hier nun einem Marskino zugedacht, das noch einmal die zentralen Themen Fassbinders bündelt: Die Bewunderung für unabhängige Frauen, die Faszination von Männerfreundschaften, das Recht auf Widerstand, das Geld als der Spiritualismus der kapitalistischen Gesellschaft, die (- at the end of the day – immer ruinöse) Liebe als Ware (hier ist er ganz Balzac) mit dem unerbittlichen Gesetz: Wer liebt, muss zahlen, die Unmöglichkeit, in der bürgerlichen Familie Liebe und Glück zu finden, und immer wieder die Teufelskreise von ökonomischer, emotionaler und sexueller Ausbeutung, wobei dann auch in Liebesbeziehungen die Klassen- und Bildungsunterschiede letztendlich immer durchschlagen.
Sehr früh behandelte Fassbinder das Thema der Geschlechterdifferenz und der sexuellen Identität, was in dieser lakonischen Selbstverständlichkeit im deutschen Film ein absolutes Novum war.
Von Woolworth-Feministinnen wurde er zuweilen heftig attackiert (das ganze Geschrei um „ Die bitteren Tränen der Petra von Kant“!). Aber den Feminismus gibt es ja nun in vielerlei Variationen. Wie zum Beispiel Kenji Mizoguchi, für den Japans zerstörerischste und tief verwurzelte Krise die Knechtung der Frau war (die Ehe als freie Prostitution mit der Hausarbeit als Zugabe, der Kapitalismus als offizielle Form der Hurerei), war Fassbinder ein „ladies´man“, ein großer Frauenregisseur, der uns viele wunderbare Darstellerinnen schenkte: Ingrid Caven, Irm Hermann, Brigitte Mira, Margit Carstensen, Barbara Sukowa, Rosel Zech, Elisabeth Trissenar) und allen voran natürlich die unvergleichliche Hanna Schygulla, Typ entrückte Vorstadtdiva. Fassbinders tiefes Verständnis der Situation der Frau zeigt sich auch in seiner Ansicht, deutsche Geschichte ließe sich am besten anhand von Frauenschicksalen erzählen. Er sah in der kapitalistischen Nachkriegshierarchie die Frauen – übrigens auch in seinem Privatleben eine höchst komplexe Angelegenheit – zwar exemplarisch als soziale Underdogs, aber eben nicht als Opfer.
„Keiner, dessen Denken im Rahmen einer Ideologie verläuft, die außerhalb seiner selbst existiert, kann meine Filme mögen. Ich mache Filme für Leute, die nicht in vorgestanzten Programmen denken. Die anderen sehen sich meine Filme an, und sie hassen sie, weil sie das kapieren.“
Zu seiner Zeit, als er zwischen 1969 und 1982 Filmgeschichte schrieb, passte Fassbinder in kein Schema. Man packte es einfach nicht: dieser elitäre Paria, dieser exorbitante Lebensstil, diese offen gelebte Homosexualität, diese Produktivität und dieser Verschleiß. Und es war ja auch schwer zu ertragen, diese Freiheit und diese Radikalität, die sich jedem Appeasement und jedem Konsens verweigerte, diese rückhaltlose künstlerische Selbstentblößung, beispielhaft in der einleitenden 26minütigen Episode, die das Klima des ganzen, 1978 bei der Berlinale uraufgeführten Collagenfilms „Deutschland im Herbst“ bestimmt.
Das von deutscher (Alt)Last befreite Ausland verlieh dann diesem Ausnahmetalent bald die höheren Weihen. „Die dritte Generation“ von 1979, von der bundesdeutschen Kritik weitgehend abgelehnt, war so etwa für einen amerikanischen Kritiker „the modern successor of Fritz Lang´s `Dr. Mabuse´ films“. 1976 die erste Retrospektive in Paris, die erste kritische Studie ebenfalls 1976 aus London und 1977 kommt es zur triumphalen Retro in New York, wo man ihn als „das größte europäische Talent“ feiert. 1977 wechselt Fassbinder mit der internationalen Produktion „Despair“ zum europäischen Autorenkino, und 1979 führt schließlich „Die Ehe der Maria Braun“ auch in Deutschland zum durchschlagenden Publikumserfolg.
Der Regisseur Fassbinder wurde zum Repräsentanten Deutschlands durch seine ernsthafte Besessenheit einerseits, sicher aber auch durch seine „Schwere“ und „Humorlosigkeit“. Nach Proust sind Klima und Landschaft die beiden Summanden, die den Menschen formen und gestalten (hinzuzufügen wäre noch ein dritter: die Geschichte mit ihrem grausamen, unerbittlichen und blinden Wesen) – in allen Lederbars der Welt zuhause und mit einer Wohnung in Paris ausgestattet, blieb Fassbinder doch immer ein Kind Westdeutschlands und letztendlich Münchens.
„Das `Öffnen der Seele´ war ein Teil von Fassbinders fiktionalisierter Persona. Er war und blieb ein Geschichtenerzähler und wahrscheinlich der einzige Filmemacher in Deutschlands langer Filmgeschichte, der eine so weitreichende und einfühlende Vision des Menschen entwarf, umfassend genug, um eine Welt zu zeugen (und deren Zeitzeuge zu sein), die unzweifelhaft die seine ist und die sich gleichzeitig anderen Personen, wenn schon nicht zum Betreten, so doch zumindest zum Wiedererkennen anbietet.“ (Thomas Elsaesser)
Dieses einmalige Werk dieses Katalysators scheint heute zwar in den Filmmuseen und den Filmseminaren aufbewahrt zu sein, aber es ist (wie auch das Werk Pasolinis) bei aller zeitlichen und historischen Datierung immer noch, immer wieder gültig und frisch, weil es zu aktuellen, ästhetischen, kreativen und kritischen Auseinandersetzungen und Reibungen reizt.
(Egbert Hörmann)